Das Reservoir für Schönheit

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Politische Schönheit und das prometheische Gefälle

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Schon einige Male habe ich im Reservoir für Schönheit Günther Anders erwähnt, und habe mein Vorhaben angedeutet, einmal genauer zu erklären, warum es unbedingt richtig ist, dass er zu unseren Säulenheiligen gehört. Die angekündigte Erklärung lautet kurz gefasst so: Weil Politische Schönheit die Antwort auf das von Anders beschriebene und völlig ungelöste Problem des prometheischen Gefälles ist. Dass wir nicht genau wissen, was Politische Schönheit ist, steht dazu nicht im Widerspruch, denn dass wir es nicht genau wissen, heißt nicht, dass wir es überhaupt nicht wissen. Wittgenstein fragte, ob »man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen« könne: »Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?« Natürlich, oft ist es so und in diesem Fall ist es so.

Was ist nun aber das prometheische Gefälle? Es handelt sich um das Problem, dass der heutige Mensch »größer und kleiner als er selbst« ist. Was ist damit gemeint? Anders:

Die Tatsache, dass unsere verschiedenen Vermögen (wie Machen, Denken, Vorstellen, Fühlen, Verantworten) sich von einander in folgenden Hinsichten unterscheiden.
1. Jedes dieser Vermögen hat ein ihm eigenes Verhältnis zu Größe und Maß. Ihre »Volumina«, ihre »Fassungskräfte«, ihre »Leistungskapazitäten« und »Griffweiten« differieren. Beispiel: Die Vernichtung einer Großstadt können wir heute ohne weiteres planen und mit Hilfe der von uns hergestellten Vernichtungsmittel durchführen. Aber diesen Effekt vorstellen, ihn auffassen können wir nur ganz unzulänglich. – Und dennoch ist das Wenige, was wir uns vorzustellen vermögen: das undeutliche Bild von Rauch, Blut und Trümmern, immer noch sehr viel, wenn wir damit das winzige Quantum dessen vergleichen, was wir bei dem Gedanken der vernichteten Stadt zu fühlen oder zu verantworten fähig sind. – Jedes Vermögen hat also seine Leistungsgrenze, jenseits derer es nicht mehr funktioniert, bzw. Steigerung nicht mehr registrieren kann; die Griffweiten der Vermögen befinden sich nicht in Kongruenz. »Ermorden«, hatten wir in der Einleitung gesagt, »können wir Tausende; uns vorstellen vielleicht zehn Tote; beweinen oder bereuen aber höchstens Einen«.

(…)

2. Dem entspricht nun – und vermutlich handelt es sich dabei lediglich um eine andere Akzentuierung des selben Tatbestandes –, dass die Elastizitäts– bzw. Starre-Grade der Vermögen differieren; dass also nicht nur das Volumen dessen, was wir herstellen, tun oder denken können, größer ist als das Volumen dessen, was unsere Vorstellung oder gar unser Fühlen leisten kann; sondern dass das Volumen des Machens und Denkens ad libitum ausdehnbar ist, während die Ausdehnbarkeit des Vorstellens ungleich geringer bleibt; und die des Fühlens im Vergleich damit geradezu starr zu bleiben scheint. (Die Antiquiertheit des Menschen, Band I, 6. Auflage 1983, S. 264/270)

Anders bringt diese folgenreiche Diskrepanz zwischen Tun und Wahrnehmen – wobei man für Wahrnehmen auch Vorstellen, Fühlen oder Verantworten einsetzen kann – auch auf die Formel: »Wir werfen weiter, als wir Kurzsichtige sehen können.« Und sehen logischerweise nicht, wen oder was wir treffen, und wenn doch, dann so verschwommen, dass es uns nicht weiter kümmert.

Das prometheische Gefälle ist natürlich ein Erzeugnis der maschinisierten Massengesellschaft – in ursprünglicheren Gesellschaften von einigen Dutzend oder Hundert Mitgliedern konnte noch niemand durch das Umlegen irgendeines Hebels das Schicksal ungezählter anderer Menschen besiegeln, ohne mit diesen in Berührung zu kommen. Allzu neu ist es aber wiederum auch nicht – sobald es Herrschaft gibt und Menschengruppen so groß werden, dass nicht mehr alle zugehörigen Individuen direkten Umgang miteinander pflegen (können), und sobald Herrscher dann also Entscheidungen nicht nur über konkrete Personen, sondern über Kategorien von Menschen treffen, ist das prometheische Gefälle vorhanden, nur eben zunächst noch weniger steil. Durch Funktions- und Arbeitsteilung nimmt die Gesellschaft selbst maschinelle Züge an, und die Erfindung von Maschinen im engeren Sinn ist so gesehen nur ein Katalysator und eine Fortschreibung dieses Trends.

Die Relevanz für die Politik unserer Gesellschaft sollte klar sein. Wir sind keine Mörder, wir sind nicht kaltherzig oder brutal. Und doch haben vor wenigen Tagen Soldaten in unserem Namen einige Dutzend Menschen in Afghanistan getötet, und wie weit wir davon entfernt sind, uns das vorstellen oder etwas Entsprechendes empfinden zu können, wird schon darin deutlich, dass wir es als einen »Vorfall« bezeichnen. Man kontrastiere das Wort »Vorfall« mit der Vorstellung, durch eine brachiale Gewalttat eine geliebte Person oder sogar mehrere zu verlieren (zu schweigen von dem Ausdruck »notwendig und richtig« in diesem Kontext). Wir legen ein binäres Deutungsschema an, wie man es eher in einem Computerspiel erwarten würde, wenn wir fragen, ob die Getöteten Zivilisten oder Taliban waren bzw. zu welchen Anteilen. Und wenn es Zivilisten waren, (aber nur dann), so Merkel, »trauern« wir »um jeden einzelnen«. Das ist natürlich eine Lüge, sofern man unter Trauer etwas anderes versteht als ein formelles Ritual. Wer von uns kann behaupten, dazu imstande zu sein?

Und dabei ist dieses Beispiel beliebig. Man kann genausogut ein anderes nehmen, wie z.B. die Festung Europa, die unser komfortables Leben schützt und Tausende sterben lässt, damit wir es nicht teilen müssen. Wir sind nicht kaltherzig, und natürlich, wenn wir einen Verhungernden vor uns hätten, würden wir ihm aus unserem vollen Kühlschrank etwas abgeben. Aber wir haben es eben nicht mit Einem zu tun, sondern mit Tausenden, und die sind nicht hier, sondern anderswo. Gleichzeitig ist diese Festung aus dem Output unserer Produktivkraft gebaut und operiert auf Grundlage unseres Stillschweigens. Wir sehen zwar, was unser Tun anrichtet, aber wir sehen es nicht in derselben Weise wie den Verhungernden vor uns, und deshalb kümmert es uns nicht.

Was bietet Anders nun für eine Lösung an, wenn überhaupt? Heute besteht, so schreibt er,

sofern nicht alles verloren sein soll, die (..) entscheidende moralische Aufgabe in der Ausbildung der moralischen Phantasie, d.h. in dem Versuche, das »Gefälle« zu überwinden, die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem unabsehbaren Ausmaß dessen, was wir anrichten können, anzumessen; uns also das Vorstellende und Fühlende mit uns als Machenden gleichzuschalten. – (S. 273)

Es ist kaum denkbar, dass Anders sich der Brutalität des Wortes »Gleichschaltung« nicht bewusst war. Tatsächlich heißt es über den »Schreiber dieser Zeilen« weiter:

Dass seine Aufforderung gewalttätig ist, ist ihm gleichfalls klar. In der Tat erinnert sein Verlangen, der Mensch solle seine Vermögen willentlich erweitern, frappant an jene gewalttätigen Überforderungen, die er bei der Erörterung des »Human Engineering« geschildert und so heftig abgewiesen hatte. Aber er sieht nicht, dass anderes übrigbleibt. Die Waffen des Angreifers bestimmen die des Verteidigers. Wenn es unser Schicksal ist, in einer (von uns selbst hergestellten) Welt zu leben, die sich durch ihr Übermaß unserer Vorstellung und unserem Fühlen entzieht und uns dadurch tödlich gefährdet, dann haben wir zu versuchen, dieses Übermaß einzuholen (S. 274).

Da es vermessen wäre, Anders wegen der Finsternis dieser Zeilen ins Wort zu fallen und zu behaupten, ich wüsste es besser, sage ich stattdessen: Es ist mir lieber, es nicht so finster zu sehen. Zwar könnte man zum Beispiel das, was man »bittere Satire« nennt, oder auch Kabarett, bei dem einem »das Lachen im Halse stecken« bleibt, in diesem Sinn als gewalttätig bezeichnen. Durch ungewöhnliches Arrangement von Informationen, durch Überspitzung und Überraschung und somit auch Überwältigung der Erwartungen des Publikums wird hier schmerzhaftes Wissen in den Bereich des Fühlbaren zurückgeholt, zurückgezwungen.

Wenn man das aber Gewalttätigkeit nennen will, dann ist es eine ganz andere als die, die sich mit dem Wort »Gleichschaltung« verbindet. Mit Satire und Kabarett befasst man sich freiwillig, und zwar nicht, um wie beim »Human Engineering« einem kybernetischen Funktionszweck zu genügen, sondern weil man es als Bereicherung empfindet. Es mag bittere Medizin sein, aber es ist nicht die Krankheit. Es dient dem geistigen Wachstum, und zum guten Leben gehören nicht nur Bequemlichkeit und Annehmlichkeit, sondern auch Herausforderung und Auseinandersetzung mit nicht immer Angenehmem.

Und schließlich sind auch die Versuche, die Anders selbst unternimmt, sich in Richtung einer Erweiterung des geistigen und emotionalen Vermögens vorzutasten, eigentlich nicht so finster, wie der obige Absatz es nahelegt. Dabei greift er nämlich unter anderem zurück auf: die Musik.

Beispiel: Wir lauschen einer Bruckner-Symphonie.
Die »Bruckner-Welt«, die sich durch das musikalische Geschehen der Symphonie aufbaut, ist von einer Breite und Voluminosität, neben der die Breite und Voluminosität unserer Alltagswelt verschwindet. Im Augenblick, da wir uns diesem breiten und voluminösen Geschehen öffnen, oder durch dessen Gewalt geöffnet werden, strömt dieses Geschehen in uns ein, füllt es uns aus; wir »fassen« es, wir »fassen es auf«. In anderen Worten: unsere Seele wird ausgedehnt, sie nimmt eine Fassungsweite ein, die wir selbst ihr gar nicht verleihen könnten. Dass uns ein solches Erlebnis der »Über-Spanntheit« oft kaum erträglich, also als Überforderung, vorkommt, ist kein Wunder. –

Aber was heißt: »wir selbst« könnten unserer Seele diese Voluminösität nicht verleihen.

Schließlich ist die Symphonie ein Werk von Bruckner. Also etwas Menschgemachtes. In gewissem Sinne also auch etwas »von uns« Gemachtes. (S. 313)

Die Abwesenheit von Politischer Schönheit ist der Zustand, in dem das prometheische Gefälle als gegeben hingenommen, nicht einmal bewusst wahrgenommen, sondern bewusstlos als Lebenswirklichkeit praktiziert wird, mitsamt aller Zerstörung, die daraus hervorgeht. Aus dem Beispiel der Symphonie wird deutlich, welche Rolle und Verantwortung heute der Kunst zukommt. Aber Politische Schönheit ist noch mehr, da sie nicht nur das Fühlen so erweitern will, dass es das Geschehen einigermaßen einholen kann, sondern darüber hinaus gleich den zweiten Schritt mitdenkt und die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellen und das politische Handeln den Maßstäben der Seele anpassen will statt umgekehrt.

Beim Seerosen-Projekt geht es nicht nur darum, uns die Tragödie auf dem Meer und an den Küsten vorzustellen, sondern auch darum, sie zu beenden – weil es keine Seele unter uns gibt, der nicht unmissverständlich klar wäre, wie falsch das Massensterben dort ist. Schönheit ist in unseren Seelen etwas Gegebenes; niemand kann bezweifeln, dass sie da ist. Man kann ihr widerstehen, ihr Gewalt antun und sie mehr oder weniger zum Schweigen bringen, aber sie ist da. Wenn man das sieht und zugesteht, ist die Frage, was Politische Schönheit wäre, schon beantwortet.

Written by Sebastian

10. September 2009 at 01:04

Atem der Maschine

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Die Animation ist mit »Breathing Earth« nicht ganz treffend betitelt. Vor allem der Klang, aber auch die gesichtslose Gleichmäßigkeit des Ablaufs selbst erinnert eher an ein riesiges Uhrwerk, so dass man nach längerem Zuschauen (während einige Länder immer dunkler werden) ratlos und befremdet dasteht wie eine Figur Kafkas.

Man kann die belebte Erde als große Maschine sehen, wenn man will; völlig falsch wäre das nicht. Es würde auch dem Erleben des größeren Ganzen, dessen Teile wir sind, als unerbittlich, übermächtig und unbeeinflussbar entsprechen, das die meisten sicherlich kennen.

Doch obwohl »Breathing Earth« unbestrittene Fakten darstellt, krankt die Metapher daran, dass Menschen im Gegensatz zu Maschinenteilen imstande sind, ihre Maschine zu verändern, die eben deshalb keine ist. Und dieses Imstandesein bedeutet auch dann einen Unterschied, wenn es nicht tätig wird, und dass es gelegentlich tätig wird, beweist, dass es vorhanden ist.

In the depths of the Amazon rainforest, the poorest people in the world have taken on the richest people in the world to defend a part of the ecosystem none of us can live without. They had nothing but wooden spears and moral force to defeat the oil companies – and, for today, they have won.

Das ist es, was man braucht, um mechanische Bilder wie dieses fruchtbar zu machen: eine Antithese.

Written by Sebastian

30. Juni 2009 at 14:54

Veröffentlicht in Anima, Animation, Dokumentation, Gaia

Anima

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Devid schickt uns

drei Fotos aus der Ukraine, Privataufnahmen. Daraus lässt sich vielleicht ablesen, welche Schönheit dieser Ort einst besessen hat, welche Schönheit die politische Realität mit ihrer Einheitsarchitektur erdrückte und wie gut es tut zu sehen, dass die Natur früher oder später schon wiederkommen wird. Die Fotos stammen aus dem Geisterdorf Pripyiat, neben dem Unglücksreaktor von Tschernobyl.

Außerdem:

Delphine, die Luftringe unter Wasser pusten und die auch noch beeinflussen können. Sehr schön – und physikalisch im Übrigen ein totales Mysterium.

Written by Sebastian

25. Juni 2009 at 16:31

Veröffentlicht in Anima, Dokumentation, Fatigue, Fotografie, Video